Sonntag, 11. August 2013

Edith Wharton – Dämmerschlaf

New York, 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Pauline Manford hat als Mutter zweier erwachsener Kinder und angesehener Dame besserer Gesellschaft alle Hände voll zu tun. Minutengenau ist ihr Tag getaktet und zwischen all den gesellschaftlichen Verpflichtungen, kosmetischen Notwendigkeiten und spirituellen Heilsmethoden bleibt ihr kaum Zeit, sich mit ihrer Familie auseinanderzusetzen. Ihr Mann ist derweil durch seine Arbeit vollkommen eingebunden und sehrt sich nach nichts mehr als nach Ruhe und Abgeschiedenheit vom städtischen Trubel. Sohn James erklimmt gerade die Karriereleiter und ist frischgebackener Vater; sein Leben wäre perfekt, würde sich seine Frau Lita nicht grässlich langweilen obschon sie ihre Tage lediglich mit Müßiggang und die Nächte mit Tanzveranstaltungen füllt. Tochter Nona indes spürt ein allgemeines Unbehagen mit der Gesamtsituation und Unzufriedenheit mit ihrer persönlichen Lage, die zwischen freiheitsliebender Unabhängigkeit und Sehnsucht nach Liebe schwankt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind schwierig, geradezu förmlich bisweilen und geprägt von dem, was die Gesellschaft von den einzelnen erwartet. Als Lita droht auszubrechen und James zu verlassen, ist seitens der Familie Manford Handeln gefragt, um den schönen Schein zu wahren.

Edith Wharton zeichnet ein detailliertes Bild der Gesellschaft ihrer Zeit. Es ist bisweilen amüsant, bisweilen erschreckend, wie die Figuren es nicht schaffen, den Konventionen zu entspringen oder ehrliche Gefühle zu entwickeln und zu äußern. Alle sind auf ihre Weise gefangen in einem Käfig, aus dem sie nicht ausbrechen können oder wollen. Ein Buch, das auf die ganz große Handlung verzichtet und dafür die Nähe im Alltag sucht und findet. Auch wenn die Figuren und ihr Lebensstil einer längst vergangenen Zeit angehören, werden sie doch geplagt von Ängsten und Sorgen, die heute noch genauso aktuell sind wie vor hundert Jahren: was ist wichtig im Leben, welchen Weg soll man einschlagen, wem kann man vertrauen und wann kann endlich man selbst sein und dafür auch geliebt werden?


Andrea Ott hat den Originaltext in überzeugender Sprache dargeboten und bisweilen sehr schöne Formulierungen gefunden, die die Zeit wunderbar wiederspiegeln. Zahlreiche Annotationen ebenen die Brücke zwischen Edith Whartons satirischem Blick auf ihre egozentrischen Mitmenschen und der Gegenwart. 

*****/5
Blogverzeichnis - Bloggerei.de